christine von luebeck, deutschlandMeine Freundin Klara war leicht – sie brachte nicht viel Gewicht auf die Waage. Aber meine Freundin aß, wenn ihr ein Gericht zusagte, mit gutem Appetit. Meine Freundin verwandte nicht übermäßig viele Gedanken an modische Kleidung. Sie konnte sich aber sehr schick anziehen, wenn das aus irgendeinem Grund, den sie anerkannte, nötig war. Meine Klara verzichtete auf viel Make-up. Aber es kam vor, dass sie elegant geschminkt erschien. Klara erschien etlichen Beobachtern als emanzipiert- intellektuell. Dass sie familienorientiert und warmherzig-spontan sein konnte, fiel weniger und wenigen auf.
Meine Freundin konnte analysieren und abstrahieren. Sie besaß die Fähigkeit, komplizierte Sachverhalte zu vereinfachen (aber nicht: zu simplifizieren). Sie konnte, um ein Beispiel zu geben, das verzwickte Geflecht einer Shakespeare-Tragödie ins Moderne projizieren und die inneren Strukturen klar sichtbar machen. Hier fanden Transformationsprozesse ohne persönliche Ambitionen statt. Klara diente stets der Sache, der Problemlösung, dem weiterführenden Gesichtspunkt. Sie selbst als Person schien dabei weniger wichtig zu sein.
Meine Freundin konnte ungekünstelt und herzlich lachen – und was sie auch konnte: deutsche Volkslieder singen, - und zwar strophenweise und textgetreu. Ich habe all das erlebt.
Meine Freundin zählte zu den wenigen Menschen meines Freundeskreises, die das un-ambitionierte Understatement lebten, wobei „unambitioniert“ und „Understatement“ einen Pleonasmus darstellen. Gespräche mit ihr waren immer interessant und ertragreich, gleichgültig, worüber man sprach. Ein von ihr gern verwendeter Bibelspruch lautete sinngemäß. „Du musst Rechenschaft ablegen über jedes gesprochene Wort.“
Klara konnte intensiv zuhören – eine heute fast versunkene Tugend, aber beim Zuhören konnte sie plötzlich einhaken, insistieren, nachfragen, nicht lockerlassen – diese Linie hatte sie auf mindestens eines ihrer Kinder weitergegeben, nämlich ihre Tochter.
Bei dem Zugunglück von Eschede vor neune Jahren wurde meine Freundin mitsamt ihren beiden Kindern aus dem Leben gerissen. Ihr Mann versucht seitdem (vergeblich), ein Leben zu führen, das kein Restleben ist. Ich werde mein Leben lang dankbar dafür sein, sie gekannt zu haben, und darum trauern, dass wir nicht gemeinsam alt werden durften.